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Porträt über Minimalist Tobi Rosswog: Ab in die Utopie

Stephanie Ristig-Bresser|

Ein Porträt über Tobi Rosswog, der über zwei Jahre komplett geldfrei lebte, dabei andere Reichtümer entdeckte und damit bereits viele hundert Menschen inspiriert hat.

„Die Utopie, sie steht am Horizont.
Ich bewege mich zwei Schritte auf sie zu
und sie entfernt sich um zwei Schritte.
Ich mache weitere 10 Schritte
und sie entfernt sich um 10 Schritte.
Wofür ist sie also da, die Utopie?
Dafür ist sie da:
um zu gehen!“

Dieses Gedicht des argentinischen Dichters Fernando Birri ist eines von Tobi Rosswogs Leitmotiven. Ich stoße bei meinen Recherchen für dieses Porträt darauf, denn Tobi zitiert es in einem Interview, das er dem „Hohe Luft“-Magazin Ende August gegeben hat. Tobi Rosswogs Vision und Utopie dreht sich darum, sich vom Geld zu befreien – frei zu sein von dieser etablierten Mechanik, die es erforderlich macht, eine bestimmte Summe an Geld verdienen zu müssen, um im Monat „über die Runden zu kommen“. Denn es ist in Deutschland und vielen weiteren europäischen Ländern so vieles im Überfluss vorhanden, mehr als wir essen und verdauen können. Jährlich werden in Deutschland 18 Millionen Tonnen Lebensmittel weggeworfen, der Beifahrersitz und die Rücksitze, die Schlafcouch, Wohnzimmer und Garten, Kräuter am Wegesrand, Kleidungsstücke – so vieles bleibt ungenutzt. Wie wäre es also, dieses Experiment zu wagen, sich diesem materiellen Überfluss einfach hinzugeben, im Vertrauen daran, dass genügend da sein wird?

Wenn Geld keine Rolle spielen würde, wer würdest du sein und was würdest du tun?

Wenn diese Frage gestellt wird, denken wohl die meisten an eine Millionensumme, einen Lottogewinn, der ihnen zur Verfügung steht und ihnen dann ihre Träume ermöglicht. Tobi hat diese Frage vollkommen anders interpretiert und beantwortet. Geld spielte wahrhaftig keine Rolle in seinem Leben, weil er für 2,5 Jahre radikal keinen Cent in die Hand genommen hat – mit einem kleinen Hintertürchen: er war weiterhin in die Familienversicherung der Eltern integriert. Sein Credo: Vorhandenes sinnvoll nutzen, denn in dieser Überfluss- und Wegwerfgesellschaft gibt es einfach zum Leben notwendige.

Tobi Rosswog – Schein-los in ein freieres Leben

Tobis geldfreie Reise begann im Frühjahr 2013 mit einem Schnitt binnen einer Woche. Der Auslöser: Er gestaltete einen Projekttag zum Thema „Welternährung und Veganismus“ für junge Menschen, die gerade ein freiwilliges ökologisches Jahr absolvierten – und erhielt begeistertes Feedback. „Tobi, das war toll, das solltest Du öfters machen“, raunten ihm einige Teilnehmende zu. „Ja, ich will“, dachte sich Tobi Rosswog und sinnierte weiter: „Warum mache ich das eigentlich nicht? Ach ja, weil ich ja noch studiere und erst eine Bescheinigung dafür brauche, dass ich das auch wirklich kann. Doch ich will und vermag und liebe das jetzt schon…“ Seine weiteren Gedanken mündeten in den radikalen Entschluss: „Ich breche die Zelte in meiner WG und mein Studium erfolgreich ab, ich verschenke all mein Geld und meinen Besitz und mache mich geldfrei auf den Weg, um all meine Talente zu verschenken, im Vertrauen, dass immer genug da sein wird.“ Bis dahin war Tobi übrigens war ein mustergültiger Pädagogik-Student mit einem Notendurchschnitt von 1,3. Alles auf Reihe also?

Frei-Raum-Finder statt obdachloser Bettler

Gleich einem Handwerker auf der Walz machte sich Tobi auf den Weg, im Gepäck: seine Neugierde und Begeisterung, sein ansteckender, Optimismus, seine Vorstellungen von einer alternativen, gerechteren Ökonomie. Menschen, die mittellos sind und kein Dach über dem Kopf haben, nennen die meisten von uns Bettler und Obdachlose, Tobi ist wohl eher ein Freisucher und –finder, ein Mensch, der die Reichtümer des Moments zu entdecken vermag, weil er sich bewusst vom Überfluss befreit hat, offen für neue Horizonte – vor allem, um mit all seiner Motivation und Zeit gesellschaftlichen Wandel zu gestalten.

Geldfreie Räume schaffen, Alternative aufzeigen

Mit dieser neuen Sichtweise und seinem Unterwegsein inspiriert Tobi viele hunderte Menschen und ermöglicht ihnen ebenfalls zumindest für kurze Zwischenzeiten geldfreie Räume. Gemeinsam mit seiner Partnerin Pia Damm, die er auf seinem Weg traf, konzipiert und realisiert er mit immer unterschiedlichen Gleichgesinnten Camps, Workshops, Konferenzen und Kongresse, die komplett geldfrei funktionieren und den Überfluss an Lebensmitteln, Materialien und Räumen „auffangen“, der uns umgibt: Seit einigen Jahren finden etwa das alternative Winterzusammenkommen (Alwizuko) und der Mitmachkongress utopival regelmäßig statt und erfreuen sich eines immer größeren Kreises an Mitorganisierenden und Teilnehmenden. Anfang November 2016 feiert die UTOPIKON – die Utopie-Ökonomie-Konferenz – ihre Premiere, mit 300 Mitwirkenden; um eine Teilnahme beworben hatten sich fast 800 Menschen. So ist mittlerweile das Aktivist*innen-Netzwerk living utopia entstanden, initiiert von Tobi Rosswog und Pia Damm, die sich aber eher als Begleiter*innen und Mitgestalter*innen dessen begreifen, nicht als Köpfe darüber.

Was gestern Kommune 1 war, ist heute…

Nach 2,5 Jahren Unterwegs-Sein haben Tobi Rosswog und Pia Damm in einem temporären Zuhause Station gemacht: Vor etwa einem Jahr haben sie im (von der Gemeinschaft so genannten) Liebermensch-Haus in Mainz ein Projekt- und Gemeinschaftshaus initiiert, in dem derzeit zehn Menschen leben und wirken, aber noch viel mehr Menschen Platz haben, denn es gibt einen Workshop- und Filmraum, der auch gleichzeitig als Schlafraum fungiert. Hier wird solidarisch geteilt: Es gibt einen Gemeinschaftsschrank, eine Vorratskammer mit geretteten veganen Lebensmitteln, einen Co-Wupping-Space mit neun Arbeitsplätzen. Sogar die Miete wird nach den finanziellen Möglichkeiten der Einzelnen getragen – und: es ist immer mehr da, als die Miete kostet. In den 60er Jahren gründete sich die Kommune 1 als Kulminationspunkt einer Protestbewegung und Modell gegen das Bürgerliche. Heute gibt es das Liebermensch-Haus: Ein Lebensentwurf für ein solidarisches, konstruktives Miteinander ohne einen Vorwurf an die parallel existierenden Lebensstile. Vielmehr geht es darum, praktisch in ein alternatives Modell hineinzuleben. Machen statt Meckern ohne einen Anspruch zu formulieren, dass jetzt gleich alle so sein müssen. Es ist ein Prozess auf dem Weg zur Utopie. So suchen die Liebermenschen auch beim nächsten Schritt einen Hof, wo sie die Utopie noch mehr leben können.

Geldfrei(er) leben à la Tobi Rosswog – verantwortungslos und weltfremd oder inspirierend und wegweisend? Darauf mag jeder seine eigene Antwort finden. In jedem Fall wird nach der Lektüre dieses Artikels deine Antwort auf die folgende Frage jetzt sicherlich um viele Facetten reicher sein:

Was würdest du tun, wenn Geld keine Rolle spielen würde?

Weiteres über die Aktivitäten von Tobi Rosswog findest Du hier:

http://livingutopia.org
http://utopikon.de/
http://Liebermensch-Haus.de


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